1.) Notwendige Verteidigung bei Untersuchungshaft oder Unterbringung - § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO
Die Mitwirkung eines Verteidigers ist gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO notwendig, wenn gegen einen Beschuldigten Untersuchungshaft nach den §§ 112, 112a StPO oder einstweilige Unterbringung nach § 126a oder § 275a Absatz 6 StPO vollstreckt wird. Hierbei kommt es nicht darauf an, ob die Untersuchungshaft in einem anderen Verfahren vollstreckt wird. Auf die Sicherungshaft nach § 453c StPO wird die Regelung analog angewendet.
• LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 29. Mai 2012 – 5 Qs 53/12, 5 Qs 53/2012
Wird gegen den Beschuldigten Untersuchungshaft nach den §§ 112, 112a StPO vollstreckt, ist ihm gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ein Pflichtverteidiger zu bestellen. Hierbei ist es ohne Bedeutung, ob die U-Haft im vorliegenden oder einem anderen Verfahren vollzogen wird.
• AG Aschersleben, Beschluss vom 19. April 2010 – 6 VR Js 23/10
Wird gegen den Verurteilten Sicherungshaft gemäß § 453c StPO vollstreckt, ist entsprechend § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ein Verteidiger zu bestellen, wenn die Haftgründe des § 112 StPO Anwendung finden
• OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. März 2011 – III-4 Ws 127/11, 4 Ws 127/11
Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO entfällt - sofern nicht die Voraussetzungen des § 140 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 StPO vorliegen - mit der Entlassung des Beschuldigten aus der Untersuchungshaft. Hat sich nach Haftentlassung ein Wahlverteidiger bestellt, so ist bei erneutem Vollzug von Untersuchungshaft nunmehr dieser auf einen entsprechenden Antrag des Beschuldigten nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO beizuordnen; eine rechtsmissbräuchliche Verdrängung des bisherigen Pflichtverteidigers liegt dann nicht vor.
2.) Notwendige Verteidigung bei Schwere der Tat - § 140 Abs. 2 StPO
Die Schwere der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO wird durch die Schwere der Rechtsfolgen bestimmt. Es kommt grundsätzlich nicht darauf an, ob die drohende Rechtsfolge eine Strafe oder ein Maßregel der Besserung und Sicherung ist. In aller Regel (aber nicht zwingend), liegt ab einer zu erwartenden Strafhöhe von einem Jahr oder mehr ein Fall der notwendigen Verteidigung vor. Auch bei mehreren gesamtstrafenfähigen Taten, die in ihrer Gesamtheit eine Gesamtstrafe von mehr als einem Jahr erwarten lassen, liegt in der Regel für jedes Strafverfahren ein Fall der notwendigen Verteidigung vor. Neben der Höhe der im Strafverfahren zu erwartenden Strafe kann sich die Schwere der Tat aber auch aus dem Angeklagten infolge der Verurteilung entstehenden oder drohenden mittelbaren Nachteilen, zum Beispiel dem drohenden Widerruf einer vorherigen Bewährung, ergeben.
• Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 14. April 2014 – 2 Rv 45/14
Hat ein Spruchkörper unter Vorsitz eines Berufsrichters die Sach- oder Rechtslage hinsichtlich der Frage, ob der Angeklagte schuldig ist oder nicht, unrichtig beurteilt, ist in aller Regel von der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage auszugehen. Bei Berufung der Staatsanwaltschaft gegen ein freisprechendes Urteil liegt damit ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vor.
• Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 22. Mai 2013 – 2 Ss 65/13
Drohen dem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der "Schwere der Tat" im Sinne des § 140 StPO begründet, ist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig.
• Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 23. Juni 2008 – 2 - 39/08 (REV), 2 - 39/08 (REV) - 1 Ss 107/08
Zwar bestimmt sich die Schwere der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO vorrangig nach der zu erwartenden Entscheidung über die Rechtsfolgen der angeklagten Taten. Zu berücksichtigen sind aber auch schwerwiegende Nachteile, die der Angeklagte anderweitig infolge der Verurteilung zu gewärtigen hat.
• OLG Nürnberg, Beschluss vom 16. Januar 2014 – 2 OLG 8 Ss 259/13
Ein Fall der wegen der Schwere der Tat notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt in der Regel bereits dann vor, wenn der Angeklagte in erster Instanz zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten ohne Bewährung verurteilt worden ist, er Berufung eingelegt hat und für den Fall seiner rechtskräftigen Verurteilung mit dem Widerruf einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von acht Monaten rechnen muss, die insgesamt drohende Freiheitsstrafe somit ein Jahr beträgt.
• OLG Stuttgart, Beschluss vom 02. März 2012 – 2 Ws 37/12
Notwendige Verteidigung im Sinn von § 140 Abs. 2 StPO liegt nicht allein deshalb vor, weil die zu verhängende geringe Strafe voraussichtlich in einem anderen Verfahren in eine Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als einem Jahr einzubeziehen sein wird.
• LG Frankfurt, Beschluss vom 22. Februar 2011 – 5/26 Qs 4/11, 5-26 Qs 4/11
Handelt es sich bei der abzuurteilenden Tat um ein geringfügiges Delikt (hier: Beförderungserschleichung mit einem Schaden von 2,30 €) und ist der zu erwartende Strafumfang in dem angefochtenen Strafbefehl bereits in groben Zügen konkretisiert, liegen die Voraussetzungen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht vor. Dies gilt auch dann, wenn der Angeklagte kurz zuvor zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung verurteilt wurde und somit neben einer Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO auch die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe in Betracht kommt.
• LG Lübeck, Beschluss vom 18. Mai 2010 – 2b Qs 63/10, 2 b Qs 63/10
Die Schwere der Tat im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO wird durch die Schwere der Rechtsfolgen bestimmt, seien diese Strafe, Maßregel oder sonstige Auswirkungen der verhängten Sanktionen auf das Leben des Angeklagten. Eine im Falle einer Verurteilung drohende nachteilige Entscheidung im Rahmen eines laufenden Gnadenverfahrens ist jedenfalls dann eine zu berücksichtigende "sonstige Auswirkung" im vorgenannten Sinne, wenn bereits eine einstweilige Aussetzung der abschließenden Entscheidung über das Gnadengesuch und eine in dem Zusammenhang angeordnete Unterstellung des Verurteilten unter die Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers erfolgt sind.
• LG Marburg, Beschluss vom 05. Februar 2014 – 7 StVK 327/13
Im Verfahren nach § 9 HessMRVollzG (Zustimmung des Gerichts zu einem Urlaubsantrag der Maßregelvollzugsanstalt aus der strafrechtlichen Unterbringung nach §§ 63, 64 StGB) ist eine analoge Anwendung von § 140 Abs. 2 StPO nicht möglich.
• KG, Beschluss vom 14. Juli 2010 – 4 Ws 77-78/10
Auf die Schwere der Tat, kommt es im Revisionsverfahren nicht mehr an, weil das Gericht an die Feststellungen im Urteil gebunden ist.
3.) Notwendige Verteidigung bei Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage - § 140 Abs. 2 StPO
Die Mitwirkung eines Verteidigers ist gemäß § 140 Abs. 2 StPO auch dann notwendig, wenn die Sach- und Rechtslage schwierig ist. Die Rechtslage ist zum Beispiel schwierig, wenn es bei der Anwendung des materiellen oder formellen Rechts auf die Entscheidung umstrittener Rechtsfragen ankommt. Die Sachlage kann schwierig sein, wenn es widersprüchliche Aussagen zum Sachverhalt gibt oder zum Beispiel ein Belastungszeuge Aussagedefizite aufweist (zum Beispiel bei kindlichen Belastungszeugen). Bei der Beurteilung des Schwierigkeitsgrades ist immer eine Gesamtwürdigung von Sach- und Rechtslage vorzunehmen. Die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage kann sich auch daraus ergeben, dass eine effektive Verteidigung die Einsichtnahme in die Verfahrensakten erfordert (was der Beschuldigte ohne Anwalt ja nicht darf).
• Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 26. Januar 2009 – 1 Ws 7/09
Die Rechtslage ist schwierig im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO, wenn es bei der Anwendung des materiellen oder formellen Rechts auf die Entscheidung nicht ausgetragener Rechtsfragen (hier: Verwertungsverbot bei Anordnung der Blutentnahme unter Verletzung des Richtervorbehalts) ankommt.
• OLG Nürnberg, Beschluss vom 03. März 2014 – 2 Ws 63/14
Ist die Mitwirkung eines Verteidigers weder aufgrund der Schwere der Tat noch wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten, so führt auch der Umstand, dass der Angeklagte der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist, nicht generell zu einer notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO, da dessen Rechte auf Ausgleich der mit den sprachbedingten Verständigungsschwierigkeiten einhergehenden Beschränkungen durch die mit Wirkung vom 6. Juli 2013 neu gefasste Vorschrift des § 187 GVG hinreichend gewahrt werden. Wird der Angeklagte durch einen sprachkundigen Wahlverteidiger vertreten, kann dies gemäß § 187 Abs. 2 Sätze 4 und 5 GVG nach den Umständen des Einzelfalls dazu führen, dass es keiner schriftlichen Übersetzung der Anklageschrift und des Urteils gemäß § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG bedarf.
• KG Berlin, Beschluss vom 25. September 2013 – (4) 121 Ss 147/13 (184/13)
Die Schwierigkeit der Sachlage macht die Mitwirkung eines Verteidigers an der Berufungshauptverhandlung in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation notwendig, wenn aus weiteren Indizien allein nicht hinreichend sicher auf die Richtigkeit der Angaben des einzigen Belastungszeugen geschlossen werden kann, so dass eine besondere Glaubwürdigkeitsprüfung erforderlich ist, und weitere, die Beweiswürdigung zusätzlich erschwerende Umstände hinzukommen. In dieser Konstellation kann eine sachgerechte Verteidigung, insbesondere das Aufzeigen von eventuellen Widersprüchen in den Angaben des Belastungszeugen, nur durch Kenntnis des gesamten Akteninhaltes gewährleistet werden. Dieser ist aber - auch nach der Neufassung des § 147 StPO - nur dem Verteidiger zugänglich, so dass in diesem Falle die Bestellung des Pflichtverteidigers unumgänglich ist.
• LG Bonn, Beschluss vom 07. Januar 2013 – 21 Qs 98/12, 21 Qs - 222 Js 347/12 - 98/12
Ist die Frage des Vorsatzes zum Tatzeitpunkt hinsichtlich des Beisichführens einer Waffe problematisch, ist die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers geboten.
• KG Berlin, Beschluss vom 25. September 2012 – 4 Ws 102/12, 4 Ws 102/12 - 141 AR 485/12
Die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist nicht allein deshalb erforderlich, weil Videoaufnahmen Bestandteil der Hauptverhandlung sein werden. Auch ein unverteidigter Angeklagter hat nach § 147 Abs. 7 StPO einen eigenen Anspruch auf die Erteilung von Auskünften und Abschriften aus den Akten. Ihm sind Vervielfältigungen von Videoaufnahmen zugänglich zu machen, wenn er sich ohne deren Kenntnis nicht angemessen verteidigen kann.
• LG Duisburg, Beschluss vom 03. September 2012 – 35 Qs 102/12, 35 Qs 716 Js 9/12 - 102/12
Weil die dem Angeklagten vorgeworfene Manipulation an einem EG-Fahrtenschreiber (hier: Aufsetzen eines Magneten auf den Kitas-Geber an der Getriebeausgangswelle zwecks Beeinflussung der Steuerleitung am Impulsgeber) in der veröffentlichten Rechtsprechung noch nicht unter dem Gesichtspunkt der störenden Einwirkung auf den Aufzeichnungsvorgang i.S.d. § 268 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 StGB beurteilt worden ist, gebietet die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Beiordnung eines Pflichtverteidigers.
• OLG Köln, Beschluss vom 20. Juni 2012 – III-2 Ws 466/12, 2 Ws 466/12
Ein allgemeiner Grundsatz des Inhalts, dass einem Angeklagten ein Pflichtverteidiger nur deswegen beizuordnen ist, weil auch der Mitangeklagte einen hat, existiert nicht. Bei besonderen Konstellationen kann aus Gründen der Waffengleichheit die Beiordnung einer Pflichtverteidigers geboten sein, etwa wenn der Mitangeklagte anwaltlich verteidigt wird und die Angeklagten sich gegenseitig belasten.
• LG Itzehoe, Beschluss vom 12. Januar 2012 – 1 Qs 3/12
Geht es in der Hauptverhandlung um die Tatbeteiligung zweier Angeklagter, haben sich beide Angeklagte bislang nicht zur Tat geäußert und kann sich ein verteidigter Mitangeklagter über seinen Verteidiger jederzeit Akteneinsicht verschaffen, die es ihm ermöglicht, mit den erhaltenen Informationen seine Verfahrensvorbereitung auszurichten, so ist dem unverteidigten Angeklagten aufgrund seiner eingeschränkten Verteidigungsfähigkeit und unter Berücksichtigung des Gebots der Waffengleichheit ein Pflichtverteidiger beizuordnen.
• LG Stuttgart, Beschluss vom 29. März 2012 – 5 Qs 13/12
Für die sachgerechte Verteidigung eines Flüchtlings gegen die Tatvorwürfe der unerlaubten Einreise und des unerlaubten Aufenthalts sowie der Urkundenfälschung durch Gebrauch von falschen Einreisedokumenten sind Kenntnisse des Nebenstrafrechts und der obergerichtlichen Rechtsprechung notwendig. Da ein aus Afghanistan stammender Angeklagter über derartige Kenntnisse offensichtlich nicht verfügen kann, ist wegen der Schwierigkeit der Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten.
• LG Görlitz, Beschluss vom 13. Januar 2012 – 8 Qs 16/11
Keine Pflichtverteidigerbestellung für "Russland-Deutschen" allein auf Grund bestehender Sprachschwierigkeiten ohne Hinzutreten besonderer Umstände die zu einer Annahme des Vorliegens der Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO führen könnten.
• LG Münster, Urteil vom 10. Januar 2012 – 3 Qs 72 Js 6994/11 - 1/12, 3 Qs 1/12 Erfordert die Durchführung des Hauptverfahrens eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Verwertung einer Blutprobe zulässig ist - etwa weil die notwendige richterliche Anordnung fehlt und eine ordnungsgemäße Belehrung des Beschuldigten über die Freiwilligkeit der Blutentnahme nicht dokumentiert wurde - so liegt ein Fall notwendiger Verteidigung vor.
• LG Bielefeld, Beschluss vom 10. November 2011 – 8 Qs 563/11 VIII, 8 Qs 563/11
Ein Strafverfahren wegen Verletzung der Unterhaltspflicht macht die Beiordnung eines Pflichtverteidigers für den Angeklagten aufgrund der schwierigen Sach- und Rechtslage notwendig.
• LG Cottbus, Beschluss vom 06. September 2011 – 22 Wi Qs 17/11
Da Akteneinsicht nur einem Verteidiger gewährt wird, ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO wegen schwieriger Rechtslage und effektiver Verteidigung geboten, wenn die Anklage (hier: wegen Vorenthaltens von Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung) auf eine Vielzahl von Urkunden Bezug nimmt, die der Angeklagte nicht kennt.
• OLG Köln, Beschluss vom 12. September 2011 – III-2 Ws 566/11, 2 Ws 566/11
Die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist gemäß § 140 Abs. 2 StPO geboten, wenn der Angeklagte Akten oder Aktenbestandteile nicht kennt, auf die es für die Entscheidung ankommt (hier: Kenntnis von polizeilichen Vernehmungsprotokollen zum Vorhalt widersprüchlicher Aussagen von Belastungszeugen im Ermittlungsverfahren und in der Hauptverhandlung).
• LG Dortmund, Beschluss vom 28. Juni 2011 – 31 Qs - 139 Js 2099/10 - 37/11, 31 Qs 37/11
Sind in einem Jugendgerichtsverfahren bereits fünf Zeugen zum Hauptverhandlungstermin geladen worden und ist es möglich, dass die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich wird, so ist die Sach- und Rechtslage als schwierig einzuordnen und dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger beizuordnen.
• LG Essen, Beschluss vom 09. Mai 2011 – 56 Qs 25/11
Die Sachlage ist schwierig, wenn zur Klärung des Tatvorwurfs der falschen Verdächtigung und der Anstiftung zur Falschaussage zwei Geschehensabläufe zu rekonstruieren und zueinander ins Verhältnis zu setzen sind, mithin das Tatgeschehen eines früheren Verfahrens inzident geprüft werden muss. Auch wenn ein Angeklagter einen Anspruch auf Auskünfte und Abschriften aus den Verfahrensakten hat, ist ihm ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn er selbst nicht in der Lage ist, die für seine Verteidigung relevanten Teile der Akten zu benennen und ihre Bedeutung einzuschätzen.
• LG Verden, Beschluss vom 29. März 2011 – 1 Qs 34/11, 1 Qs 35/11
Der Umstand, dass ein Angeklagter Analphabet ist, begründet nicht ohne weiteres die Erforderlichkeit einer Pflichtverteidigerbeiordnung. Anders ist dies jedoch zu beurteilen, wenn eine schwierige Sachlage gegeben ist und zahlreiche Urkunden wesentlicher Teil der Beweisaufnahme sein werden.
• LG Weiden, Beschluss vom 04. Januar 2011 – 2 Qs 69/10
Besitzt der Angeklagte, dem Fahren ohne Fahrerlaubnis vorgeworfen wird, eine ungarische Fahrerlaubnis, die vor Inkrafttreten der Neufassung der Fahrerlaubnisverordnung am 19. Januar 2009 erteilt wurde, gilt § 28 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 FeV nur in Verbindung mit der bisherigen Rechtsprechung des EuGH. Da die Rechtsfragen zum Vorwurf des vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis somit nicht eindeutig geklärt sind, ist die Beiordnung eines Verteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO geboten.
• LG Augsburg, Beschluss vom 04. Juni 2010 – 6 Qs 252/10
Da sich die Verwaltungsgerichte und die Oberverwaltungsgerichte/ Verwaltungsgerichtshöfe der Bundesländer völlig uneins sind, ob die in § 28 Abs. 4 Nr. 3 FeV enthaltene Regelung gegen europäisches Gemeinschaftsrecht verstößt oder nicht und deshalb nicht abschließend geklärt ist, ob der Angeklagte mit seiner nach dem 19. Januar 2009 in Polen erworbenen Fahrerlaubnis, in Deutschland ein entsprechendes Kraftfahrzeug führen darf, und somit auch die keineswegs einfache Frage eines eventuell unvermeidbaren Verbotsirrtums zu klären sein wird, liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vor.
• LG Cottbus, Beschluss vom 22. Dezember 2010 – 24 Qs 147/10
Unterbleibt die gebotene Mitteilung des Anklagevorwurfs in einer dem Angeschuldigten verständlichen Sprache, so kann dieser - schwere - Verfahrensfehler im weiteren Verfahren insbesondere durch die Beiordnung eines Pflichtverteidigers ausgeglichen werden.
• OLG Stuttgart, Beschluss vom 08. November 2001 – 3 Ss 251/2001, 3 Ss 251/01
Schwierig im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO ist die Rechtslage, wenn bei Anwendung des materiellen oder des formellen Rechts auf den konkreten Sachverhalt bislang nicht ausgetragene Rechtsfragen entschieden werden müssen. Dies ist der Fall, wenn die Frage zu klären ist, unter welchen Umständen ein vorausgegangener Verstoß gegen eine Aufenthaltsbeschränkung den Vorwurf der wiederholten Zuwiderhandlung gegen eine Aufenthaltsbeschränkung nach dem Asylverfahrensgesetz begründet.
• LG Hamburg, Beschluss vom 10. Februar 2010 – 601 Qs 9/10
Nicht jede Aussage-gegen-Aussage-Konstellation macht die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich. Dies kommt namentlich dann nicht in Betracht, wenn zu der Aussage des einzigen Belastungszeugen weitere belastende Indizien hinzukommen, so dass von einer schwierigen Beweiswürdigung dann nicht mehr gesprochen werden kann. Einem der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtigen – ausländischen – Angeklagten ist ein Verteidiger beizuordnen, wenn die Hinzuziehung eines Dolmetschers nicht ausreicht, seine auf den sprachlichen Defiziten beruhende eingeschränkte Verteidigungsmöglichkeit völlig auszugleichen. Dies ist regelmäßig anzunehmen bei komplexen Geschehen, die nur durch Zeugenvernehmungen aufgeklärt werden können und bei Geschehen, bei denen es wesentlich auch auf die Glaubhaftigkeit der Aussagen und die Glaubwürdigkeit der Zeugen ankommt.
• OLG Oldenburg, Beschluss vom 07. Dezember 2009 – 1 Ws 670/09
Allein die Tatsache, dass ein Verurteilter der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist, reicht nicht aus, um die Notwendigkeit einer Pflichtverteidigung im Strafvollstreckungsverfahren zu begründen. Einer solchen bedarf es nicht, wenn seine Behinderung in der Verteidigung allein auf sprachlichen Defiziten beruht und diese durch die Beiordnung eines Dolmetschers vollständig ausgeglichen werden kann. Kann jedoch ein psychisch instabiler Verurteilter die schwerwiegenden ausländer- und strafvollstreckungsrechtlichen Konsequenzen seines Antrags nach § 456a StPO nicht erfassen, ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich.
• LG Saarbrücken, Beschluss vom 05. Oktober 2009 – 3 Qs 79/09
Ist die Frage der vorzeitigen Haftentlassung gemäß § 88 Abs. 1 JGG nicht ohne Hilfe eines psychiatrischen/psychologischen Sachverständigengutachtens zu klären, gebietet es der Grundsatz des fairen Verfahrens, wegen der Schwierigkeiten der Prognose mit Blick auf die Persönlichkeitsproblematik des Verurteilten diesem einen Pflichtverteidiger beizuordnen.
• LG Köln, Beschluss vom 23. Juli 2009 – 111 Qs 312/09
Das Prinzip der Waffengleichheit gebietet es, dass auch dem Angeklagten ein Verteidiger beigeordnet wird, wenn das Amtsgericht dem Mitangeklagten einen Pflichtverteidiger beigeordnet hat.
• OLG Zweibrücken, Beschluss vom 06. Juli 2009 – 1 Ws 151/09
Die von einem Sachverständigen angesprochene Frage der „Schwere“ einer seelischen Abartigkeit, aber auch die Problematik eines sicheren Ausschlusses einer Kleptomanie lassen aus der Sicht der Angeklagten die Mitwirkung des Verteidigers als geboten erscheinen.
• Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 26. Februar 2009 – 1 Ws 71/09
Im Fall der Berufung der Staatsanwaltschaft gegen ein freisprechendes Urteil ist in der Regel von einer schwierigen Sach- oder Rechtslage auszugehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Verurteilung aufgrund abweichender Beweiswürdigung oder sonstiger unterschiedlicher Beurteilungen der Sach- oder Rechtslage erstrebt wird. Allerdings belegt eine unterschiedliche Bewertung des Sachverhalts durch die Staatsanwaltschaft und das erstinstanzliches Gericht nicht ausnahmslos die Schwierigkeit der Rechtslage.
4.) Notwendige Verteidigung bei Unfähigkeit zur Selbstverteidigung § 140 Abs. 2 StPO
Eine notwendige Verteidigung kann auch dann in Betracht kommen, wenn der Täter aufgrund seiner Fähigkeiten und Kenntnisse oder Aufgrund seiner Persönlichkeit oder sonstigen Umständen nicht in der Lage ist, sich angemessen selbst zu verteidigen. Das kann zum Beispiel bei einem sprachunkundigen Ausländer der Fall sein, aber auch, wenn der Täter Analphabet ist und die Anklage auf umfangreiche Schriftstücke Bezug nimmt. Auch Angeklagte, die unter Betreuung stehen, sind in aller Regel nicht in der Lage sich vor Gericht hinreichend selbst zu verteidigen.
• OLG Stuttgart, Beschluss vom 22. November 2012 – 4a Ws 151/12
Weder der Grundsatz des fairen Verfahrens, noch das Prinzip der Waffengleichheit führen zur Annahme einer Selbstverteidigungsunfähigkeit i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO allein aufgrund des Umstandes, dass ein Mitangeklagter über einen Verteidiger verfügt. Vielmehr ist stets eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, die in Fällen tatsächlicher gegenseitiger Belastung von verteidigten und unverteidigten Mitangeklagten zur Notwendigkeit einer Verteidigerbestellung führen kann, sofern die Kenntnis des Akteninhalts zur Verteidigung von entscheidender Bedeutung ist.
• LG Flensburg, Beschluss vom 20. November 2012 – II Qs 68/12
Es sind aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalles die Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO erfüllt, wenn die Hauptbelastungszeugin eine kindliche Zeugin ist, die zum angeklagten Tatzeitpunkt gerade erst 4 Jahre alt war, der Angeklagte Ausländer ist, dem die Anklageschrift noch nicht durch das Gericht übersetzt worden ist und der in der Hauptverhandlung einen Dolmetscher benötigt und dessen Fähigkeit zur Selbstverteidigung fraglich ist, weil er phasenweise aggressiv und gewalttätig ist und sich nicht unter Kontrolle hat.
• LG Braunschweig, Beschluss vom 12. Dezember 2011 – 5 Qs 301/11
Auch wenn die Straferwartung im Hinblick auf die Schwere der dem Angeklagten zur Last gelegten Tat unmittelbar keine Beiordnung eines Pflichtverteidigers rechtfertigt, kann die Kumulation des drohenden mittelbaren Nachteils sowie die Besorgnis der Unfähigkeit der Selbstverteidigung des Angeklagten in der Gesamtschau dazu führen, dass die Verteidigung des Angeklagten notwendig i.S.d. § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO ist. Das gilt insbesondere für den Fall, dass der Angeklagte unter Betreuung steht, selbst wenn er einen Rechtsanwalt als Betreuer hat.
• LG Hildesheim, Beschluss vom 09. November 2007 – 12 Qs 57/07
Einem Angeschuldigten ist zur Wahrung seiner Rechte aus Art. 6 Abs. 3 EMRK ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn er wegen einer Lese- und Rechtschreibschwäche (Legasthenie) nicht in der Lage ist, zur Vorbereitung seiner Verteidigung den Akteninhalt mit zumutbarem Aufwand selbst zu erfassen.
• OLG Nürnberg, Beschluss vom 25. Juli 2007 – 2 Ws 452/07
Die Aufgaben eines Betreuers und die eines Verteidigers unterscheiden sich grundlegend. Die Tatsache, dass dem Verurteilten ein Rechtsanwalt als Betreuer bestellt ist, ändert daher nichts an der Voraussetzung des § 140 Abs. 2 StPO.
• LG Koblenz, Beschluss vom 02. März 2006 – 4 Qs 16/06
Bei einer krankheitsbedingten Unfähigkeit zur sachgerechten Verteidigung ist dem Verurteilten auch im Vollstreckungsverfahren, insbesondere im Verfahren mit dem Ziel des Widerrufs der Strafaussetzung nach § 56f StGB, ein Pflichtverteidiger beizuordnen.
• OLG Hamm, Beschluss vom 09. Februar 2004 – 2 Ss 21/04
Die erforderliche Mitwirkung eines Verteidigers wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung ergibt sich dann, wenn der Nebenkläger an der Hauptverhandlung teilnimmt und dieser sich anwaltlichen Beistandes bedient.
5.) Notwendige Verteidigung im Jugendstrafverfahren
Grundsätzlich gelten im Jugendstrafverfahren die gleichen Beiordnungsvorschriften wie im Erwachsenenstrafrecht. Wenn also einem Erwachsenen ein Pflichtverteidiger beizuordnen wäre, dann ist er auch einem Jugendlichen beizuordnen. Vielfach wird allerdings wegen der geringeren Erfahrung und Eloquenz von Jugendlichen und Heranwachsenden im Zweifel eher ein Verteidiger beigeordnet, als im Erwachsenstrafrecht.
• Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 18. April 2008 – 2 Ss 32/08 (43/08)
§ 140 Abs. 2 StPO bedarf einer jugendspezifischen Auslegung, die zu berücksichtigen hat, dass insbesondere der Jugendliche oder Heranwachsende in der Regel im Umgang mit staatlichen Instanzen unerfahren und eingeschränkt in seinen sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten ist und dadurch in seiner Interessenwahrnehmung vor Gericht gehandicapt sein könnte. Dies führt zu einer extensiven Interpretation der Notwendigkeit einer Verteidigerbestellung zugunsten des jugendlichen oder heranwachsenden Beschuldigten. Kommt angesichts einer Vielzahl von einschlägigen Straftaten die Verhängung einer Jugendstrafe von nicht unerheblichem Gewicht in Betracht, die auch bei Berücksichtigung des Fehlens eines gefestigten familiären Umfeldes und des Schulabbruchs des jugendlichen Angeklagten einen erheblichen Einschnitt in dessen Leben bedeuten würde, so ist die Mitwirkung eines Verteidigers geboten.
• KG Berlin, Beschluss vom 07. Mai 2013 – 4 Ws 47/13, 4 Ws 47/13 - 141 AR 193/13
Nach §§ 68 Nr. 1, 109 Abs. 1 Satz 1 JGG ist dem heranwachsenden Angeklagten ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn einem Erwachsenen ein Verteidiger zu bestellen wäre. Für die Beurteilung der Notwendigkeit der Pflichtverteidigerbestellung im Jugendstrafverfahren gelten daher zunächst die Grundsätze, die auch bei der Bestellung eines Pflichtverteidigers im Strafverfahren gegen Erwachsene gelten. Liegen die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO nicht vor, ist gemäß § 140 Abs. 2 StPO die Mitwirkung eines Verteidigers in der Hauptverhandlung und die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich, wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann. In § 68 Nr. 1 JGG wird hinsichtlich der Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung uneingeschränkt auf das allgemeine Strafrecht verwiesen. Die zur näheren Konkretisierung und Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des § 140 Abs. 2 StPO im Erwachsenenrecht ergangene Rechtsprechung findet daher auch im Jugendstrafrecht Anwendung; den Besonderheiten des Jugendstrafverfahrens ist jedoch Rechnung zu tragen. Eine Pflichtverteidigerbestellung ist nicht allein deshalb notwendig, weil Anklage vor dem Jugendschöffengericht erhoben worden oder überhaupt die Verhängung einer Jugendstrafe zu erwarten ist. Die Schwere der Tat gebietet die Beiordnung eines Pflichtverteidigers grundsätzlich auch im Jugendstrafrecht jedenfalls dann, wenn nach den Gesamtumständen eine Freiheitsentziehung von mindestens einem Jahr zu erwarten ist oder jedenfalls angesichts konkreter Umstände in Betracht kommt. Bei der Straferwartung von einem Jahr handelt es sich jedoch nicht um eine starre Grenze, sondern es sind vielmehr auch sonstige Umstände zu berücksichtigen, die im Zusammenhang mit der verhängten bzw. drohenden Strafe dazu führen können, dass die Mitwirkung eines Verteidigers auch bei einer niedrigeren Strafe geboten erscheint. Neben der Frage eines möglichen Bewährungswiderrufs wegen der zu verhängenden Strafe können dabei auch, gerade im Jugendstrafrecht, andere Gesichtspunkte eine Rolle spielen. Denn gerade im Jugendstrafrecht ist wegen der in der Regel geringeren Lebenserfahrung des jugendlichen oder heranwachsenden Angeklagten und seiner daher größeren Schutzbedürftigkeit eher die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich als im Erwachsenenstrafrecht.
6.) Notwendige Verteidigung im Bußgeldverfahren
Auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren kann, insbesondere bei schwieriger Sach- und Rechtslage, über §§ 60, 46 OWiG, 140 StPO die Beiordnung eines Pflichtverteidigers möglich sein.
• LG Ellwangen, Beschluss vom 14. Oktober 2011 – 1 Qs 82/11
Aufgrund der Verweisung des § 46 Abs. 1 OWiG gelten die Vorschriften über die notwendige Verteidigung nach §§ 140, 141 StPO auch im gerichtlichen Bußgeldverfahren.
• LG Stuttgart, Beschluss vom 13. Dezember 2012 – 19 Qs 154/12 OWi
Mangels Vorliegen einer schweren Tat kommt die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gemäß § 140 Abs. 2 StPO bei einem Rotlichtverstoß, der mit einer Geldbuße von 200 Euro und 1 Monat Fahrverbot geahndet wird, nicht in Betracht.
• LG Mainz, Beschluss vom 06. April 2009 - 1 Qs 49/09
Gemäß § 140 Abs. 2 StPO bedarf es der Bestellung eines Verteidigers u. a. dann, wenn dessen Mitwirkung wegen der Schwere der Tat geboten erscheint. Bei der Beurteilung der Tatschwere im Einzelfall sind jedoch neben der unmittelbaren deliktsbezogenen Straferwartung auch sonstige schwerwiegende Nachteile in Rechnung zu stellen, die der Angeklagte infolge der Verurteilung zu befürchten hat (vgl. OLG Düsseldorf, 2. Strafsenat, Beschluss vom 11.9.1998, Az.: 2 Ws 496/98 in: OLGSt StPO § 140 Nr. 20). Anders als in den üblichen Fällen einfach gelagerter Verkehrsordnungswidrigkeiten war hinsichtlich der Schwere der Tat die für den Betroffenen mittelbar drohende Folge des Führerscheinentzugs durch die Fahrerlaubnisbehörde in die Beurteilung einzubeziehen. Eine solche steht einer weiteren Beschäftigung als Berufskraftfahrer entgegen, so dass mit einer Kündigung des derzeitigen Beschäftigungsverhältnisses zu rechnen ist. Angesichts des Alters des Angeklagten erscheint eine anderweitige Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt ebenfalls unwahrscheinlich. Aus diesen Gründen war ausnahmsweise in Ordnungswidrigkeitenverfahren mit der Kostenfolge des § 467 Abs. 1 StPO der Beschluss des Amtsgerichts Bingen am Rhein aufzuheben und für den Betroffenen der erwählte Verteidiger als Pflichtverteidiger beizuordnen.
• AG Ahrensburg, Beschluss vom 07. Dezember 2011 – 52 OWi 760 Js-OWi 15141/11 (435/11), 52 OWi 435/11
Droht im Falle der Verurteilung des Betroffenen im Bußgeldverfahren eine Eintragung von 3 Punkten zu den bereits vorhandenen 18 Punkten im Verkehrszentralregister und damit die Entziehung der Fahrerlaubnis im Verwaltungsverfahren, so handelt es sich bei der Fahrerlaubnisentziehung lediglich um einen mittelbaren Nachteil aus der vorgeworfenen Tat, der die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht rechtfertigen kann.
• OLG Dresden, Beschluss vom 30. August 2010 – Ss (OWi) 812/09
In Bußgeldsachen kann die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten sein, wenn eine schwierige Rechtslage durch die bisher fehlende Austragung von Rechtsfragen vorliegt.
• LG Köln, Beschluss vom 09. Dezember 2009 – 105 Qs OWi 382/09
Eine Pflichtverteidigerbestellung kommt im Bußgeldverfahren nur ausnahmsweise in Betracht, wenn die Bußgeldsache für den Betroffenen eine überragenden Bedeutung hat, etwa dadurch, dass er den Führerschein für seinen Arbeitsplatz in einem kleinen Betrieb dringend benötigt und gegen ihn noch weitere Bußgeldverfahren wegen ähnlicher – zum Teil auch erheblicher – Geschwindigkeitsüberschreitungen anhängig sind.
7.) Notwendige Verteidigung im Strafvollstreckungsverfahren
Im Vollstreckungsverfahren wird ein Pflichtverteidiger nur unter eingeschränkten Voraussetzungen beigeordnet. Dem Strafvollstreckungsverfahren liegt ja bereit eine rechtskräftige Entscheidung zu Grunde, weshalb hier eine Verteidigung durch einen Rechtsanwalt in aller Regel nicht mehr erforderlich ist. Es sind allerdings besondere Umstände denkbar, welche die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich werden lassen.
• OLG Hamm, Beschluss vom 29. April 2013 – 5 Ws 113 - 115/13
Die Klarstellung einer offensichtlichen Verwechslung rechtfertigt die Beiordnung eines Pflichtverteidigers entsprechend § 140 Abs. 2 StPO im Strafvollstreckungsverfahren nicht.
• OLG Braunschweig, Beschluss vom 06. März 2013 – Ws 26/13
Ein Pflichtverteidiger ist im Verfahren zur Überprüfung der Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 140 Abs. 2 StPO beizuordnen, wenn im konkreten Fall mit Hilfe eines Sachverständigen eine zweifelhafte medizinische Diagnose abzuklären ist, der maßgebliche Bedeutung für die Schwere der Persönlichkeitsstörung und damit für die gebotene Entscheidung zukommt. Eine Beiordnung gemäß § 140 Abs. 2 StPO ist im Regelüberprüfungsverfahren zudem erforderlich, wenn ein Untergebrachter über eine Intelligenz im Grenzbereich zur Intelligenzminderung verfügt und von den behandelnden Ärzten "kognitive Verzerrungen und falsche Selbsteinschätzungen" festgestellt werden.
• OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11. Juli 2011 – III-1 Ws 205 - 206/11, III-1 Ws 205/11, III-1 Ws 206/11, 1 Ws 205 - 206/11, 1 Ws 205/11, 1 Ws 206/11
Im Vollstreckungsverfahren gilt die Bestellung eines Pflichtverteidigers grundsätzlich nur für den jeweiligen Verfahrensabschnitt, und nicht für das gesamte Vollstreckungsverfahren. Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers für die Prüfung der Strafrestaussetzung zum Zweidrittelzeitpunkt endet daher mit dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens und erstreckt sich nicht auf ein erneutes Reststrafengesuch; hierfür bedarf es einer erneuten Beiordnung.
• Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 27. April 2010 – 1 Ws 144/10
Die Verteidigerbestellung im Vollstreckungsverfahren erstreckt sich, jedenfalls bei Vollzug einer Maßregel gemäß § 63 StGB, auf das gesamte Verfahren. Die Auswechslung eines Pflichtverteidigers bei Fehlen eines wichtigen Grundes ist nach dem Grundsatz des fairen Verfahrens nur dann geboten, wenn der bisher beigeordnete notwendige Verteidiger mit einer Entbindung von der Pflichtverteidigung einverstanden ist und durch die Beiordnung des neuen Verteidigers weder eine Verfahrensverzögerung noch Mehrkosten für die Staatskasse verursacht werden.
• OLG Oldenburg, Beschluss vom 07. Dezember 2009 – 1 Ws 670/09
Allein die Tatsache, dass ein Verurteilter der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist, reicht nicht aus, um die Notwendigkeit einer Pflichtverteidigung im Strafvollstreckungsverfahren zu begründen. Einer solchen bedarf es nicht, wenn seine Behinderung in der Verteidigung allein auf sprachlichen Defiziten beruht und diese durch die Beiordnung eines Dolmetschers vollständig ausgeglichen werden kann. Kann jedoch ein psychisch instabiler Verurteilter die schwerwiegenden ausländer- und strafvollstreckungsrechtlichen Konsequenzen seines Antrags nach § 456a StPO nicht erfassen, ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich.
• OLG München, Beschluss vom 15. Oktober 2009 – 1 Ws 943/09
Eine Pflichtverteidigerbeiordnung für das durchzuführende Prüfungsverfahren gemäß §§ 67d, 67e StGB umfasst regelmäßig nur diesen konkreten Verfahrensabschnitt bis zur Rechtskraft des jeweiligen Fortdauerbeschlusses. Dem Verurteilten ist auf seinen Antrag ein Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger beizuordnen, der als Wahlverteidiger des Verurteilten dessen besonderes Vertrauen genießt. Der Gesichtspunkt der Ortsferne hat demgegenüber aus verfassungsrechtlichen Gründen zurückzutreten.
• OLG Hamm, Beschluss vom 14. September 2009 – 2 Ws 239/09
Wenn die Strafvollstreckungskammer erwägt, aufgrund des Ergebnisses eines Sachverständigengutachtens abweichend von der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt zu entscheiden, indiziert dies, dass die Sachlage bei der Beurteilung der Voraussetzungen der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung gemäß § 57 StGB nicht einfach gelagert ist. Vor diesem komplexen Hintergrund ist der Verurteilte zu einer sachgemäßen Wahrnehmung seiner Rechte ohne den Beistand eines Verteidigers nicht in der Lage, der deshalb beizuordnen ist.
8.) Anhörungsrecht des Angeklagten vor der Verteidigerbestellung
Grundsätzlich muss der Angeklagte vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers angehört werden, damit er Gelegenheit hat, einen eigenen Verteidiger zu benennen. Dies gilt insbesondere auch dann, wenn lediglich zur Verfahrenssicherung neben dem Wahlanwalt ein Pflichtverteidiger bestellt wird. Die Anhörung kann nur dann ausnahmsweise entfallen, wenn wegen unvorhersehbarer Umstände eine Zeit zur Anhörung – sei es auch einer telefonischen – vor dem Hauptverhandlungstermin nicht mehr gegeben ist.
• LG Dresden, Beschluss vom 10. November 2011 – 4 Qs 163/11
Ein Verhafteter ist unmissverständlich darüber zu belehren, dass er einen Anspruch auf Beiordnung eines Verteidigers hat und dass er einen Anwalt seines Vertrauens benennen kann.
• LG Erfurt, Beschluss vom 11. April 2011 – 7 Qs 59/11
Geht dem Angeklagten das Schreiben des Gerichts, einen geeigneten Rechtsanwalt seiner Wahl als Verteidiger zu benennen, nicht zu, da er sich unter der angegebenen Anschrift (hier: eines Obdachlosenheims) nicht mehr aufhält, so ist die gerichtliche Pflichtverteidigerbestellung auf seine Beschwerde hin aufzuheben.
• OLG Dresden, Beschluss vom 04. April 2012 – 1 Ws 66/12
In Fällen, in denen bei der Pflichtverteidigerbeiordnung das Anhörungsrecht des Beschuldigten bzw. sein Recht, innerhalb einer angemessenen Frist einen Verteidiger seiner Wahl zu benennen, nicht beachtet wird, kann auf späteren Antrag des Beschuldigten der bestellte Pflichtverteidiger gegen den nunmehr benannten Verteidiger seines Vertrauens ausgewechselt werden.
• LG Bonn, Beschluss vom 28. Januar 2010 – 21 Qs 7/10, 21 Qs 773 Js 1043/09 - 7/10, 21 Qs-773 Js 1043/09-7/10
Für die Rechtmäßigkeit der Entscheidung über die Auswahl des Pflichtverteidigers kommt es auf die objektive Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung an und nicht auf die tatsächliche Kenntnis des Gerichts. Im Ermittlungsverfahren darf der Beschuldigte den Verteidiger seines Vertrauens auch gegenüber der Staatsanwaltschaft benennen. Verzögerungen in der Übermittlung zwischen der Staatsanwaltschaft und dem für die Bestellung zuständigen Ermittlungsrichter des Amtsgerichts, die hier eine Woche betragen haben, können insoweit nicht zu Lasten des Beschuldigten gehen.
9.) Bestellung mehrerer Pflichtverteidiger
Die Beiordnung mehrerer Pflichtverteidiger ist ausnahmsweise möglich, wenn aufgrund der außergewöhnlichen Schwierigkeit, des außergewöhnlichen Umfangs des Verfahrens oder der außergewöhnlich langen Dauer der Hauptverhandlung dafür ein unabweisbares Bedürfnis besteht, um eine ausreichende Verteidigung zu gewährleisten. Die Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers nur für die Verhandlungstage, an denen der erste Pflichtverteidiger verhindert ist, ist nicht möglich.
• KG Berlin, Beschluss vom 20. September 2013 – 4 Ws 122/13, 4 Ws 122/13 - 141 AR 474/13
Die Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers setzt ein unabweisbares Bedürfnis voraus, eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten und einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten. Das besteht unter anderem bei einer besonderen Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage sowie dann, wenn sich die Hauptverhandlung über einen längeren Zeitraum erstreckt und zu ihrer ordnungsgemäßen Durchführung sichergestellt werden muss, dass auch bei dem vorübergehenden Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden kann, oder der Verfahrensstoff so außergewöhnlich umfangreich ist, dass er nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger beherrscht werden kann.
• OLG Rostock, Beschluss vom 23. Juli 2010 – I Ws 384/09
Die Bestellung eines weiteren Verteidigers ist […] geboten, wenn bei notwendiger Verteidigung zu befürchten ist, dass der vorhandene Verteidiger in der Hauptverhandlung nicht ständig anwesend sein oder die zur reibungslosen Durchführung der Hauptverhandlung erforderlichen Maßnahmen nicht treffen kann oder will oder sonstige Gründe der prozessualen Fürsorge dies gebieten. Die Beiordnung von mehr als einem Pflichtverteidiger ist somit ausnahmsweise gerechtfertigt oder unerlässlich, wenn aufgrund des Umfangs und/oder der Schwierigkeit des Verfahrens ein unabweisbares Bedürfnis besteht, eine ausreichende Verteidigung zu gewährleisten. Dies kann (z.B. in einer Wirtschaftsstrafsache) in Ansehung des Umfangs der Anklageschrift, der Art und Vielzahl der Tatvorwürfe, der Anzahl der Zeugen und sonstiger Beweismittel und der (mutmaßlichen) Dauer der Hauptverhandlung und des Umfangs der Akten, in die Einsicht genommen werden darf, der Fall sein.
• Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 10. Mai 2012 – 1 Ws 173/12
Gegen die Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers steht dem Angeklagten kein Rechtsmittel zu, es sei denn er beanstandet die Auswahl der Person des Verteidigers.
10.) Kriterien zur Auswahl des Pflichtverteidigers
Dem Täter wird auf Antrag stets derjenige Verteidiger beigeordnet, den er als seinen Verteidiger benennt. Das kann auch ein Anwalt aus einem weit entfernten Gerichtsbezirk sein. Die Ortsferne des Kanzleisitzes des Verteidigers steht der Beiordnung nur dann entgegen, wenn dadurch eine sachdienliche Verteidigung des Beschuldigten und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gefährdet würden. Eine Einschränkung in einem Beiordnungsbeschluss, dass die Beiordnung nur zu den Bedingungen eines ortsansässigen Rechtsanwaltes erfolge, ist unwirksam. Benennt der Beschuldigte keinen Verteidiger seiner Wahl, so wählt das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen einen Verteidiger aus.
• KG Berlin, Beschluss vom 08. Juli 2013 – 2 Ws 349/13, 2 Ws 349/13 - 1 AR 340/13
Nach der Neufassung des § 142 Abs. 1 StPO durch das 2. OpferRRG hat die Entfernung zwischen Kanzleisitz und Gericht als Kriterium für die Auswahl des Pflichtverteidigers an Bedeutung verloren, kann aber neben anderen Gesichtspunkten bei der erforderlichen Gesamtabwägung weiterhin berücksichtigt werden. Eine kürzere Wegstrecke, bei der lediglich die Grenzen eines Gerichtsbezirks überschritten werden müssen, ist indes von vornherein ohne Relevanz.
• Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 05. November 2009 – 1 Ws 676/09
Besteht zwischen dem in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebrachten Verurteilten und einem Verteidiger eine dauerhafte Zusammenarbeit, kann das für die Beiordnung zum Pflichtverteidiger erforderliche besondere Vertrauensverhältnis ohne weiteres vermutet werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Verteidiger bereits Vorleistungen in Form eines Besuches bei dem Betroffenen zum Zwecke der Besprechung der anstehenden Fragen erbracht hat.
• LG Magdeburg, Beschluss vom 04. Februar 2008 – 24 Qs 7/08
Erfüllt der von dem Beschuldigten vorgeschlagene Verteidiger die an ihn zu stellenden Voraussetzungen der Gewährung rechtskundigen Beistandes und der Sicherung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufes, so ist das Ermessen des Gerichtsvorsitzenden bei der Auswahl des Pflichtverteidigers in der Regel soweit eingeschränkt, dass die Beiordnung eines anderen als des vom Beschuldigten vorgeschlagenen Verteidigers als ermessensfehlerhaft zu werten wäre. Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn der Beschuldigte die Bestellung eines auswärtigen Verteidigers wünscht. Der Beschuldige bzw. sein Verteidiger sind nicht gehalten, im Einzelnen darzulegen, woraus sich das erforderliche Vertrauensverhältnis ableitet. Denn das Bestehen eines solchen Vertrauensverhältnisses kommt regelmäßig in der Auswahl des Verteidigers zum Ausdruck und ist deshalb grundsätzlich zu vermuten, wenn die Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragt wird.
• OLG Rostock, Beschluss vom 29. Januar 2008 – I Ws 1/08
Aus § 142 Abs. 1 S. 1 StPO folgt nicht, dass der Pflichtverteidiger zwingend in dem jeweiligen Gerichtsbezirk ansässig sein muss und die Bestellung eines auswärtigen Verteidigers schlechthin ausgeschlossen ist. Vielmehr ist im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung, die dem Beschuldigten oder Untergebrachten einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung gibt, unter Abwägung aller Umstände zu prüfen, ob ausnahmsweise die Bestellung eines auswärtigen Pflichtverteidigers in Betracht kommt. Vornehmlich dann, wenn ein besonderes Vertrauensverhältnis besteht, kann das Auswahlermessen des Strafkammervorsitzenden eingeschränkt oder sogar auf Null reduziert sein, so dass die Ablehnung der Bestellung des vom Untergebrachten gewünschten (ggf. ortsfernen) Verteidigers ermessensfehlerhaft sein kann. Ein solches Vertrauensverhältnis kann gegeben sein, wenn der als Pflichtverteidiger gewünschte Rechtsanwalt in dem betreffenden Verfahren bereits zuvor, unter Umständen schon seit längerer Zeit, als Wahlverteidiger für den Untergebrachten tätig war.
• OLG Köln, Beschluss vom 03. November 2006 – 2 Ws 550/06
Ist nicht ersichtlich, dass die dem bestellten Pflichtverteidiger vorgeworfene Konfliktverteidigung in anderen Fällen im Ergebnis tatsächlich zu maßgeblichen Verfahrensverzögerungen geführt hat, liegt kein Grund vor, dem Angeklagten einen weiteren Pflichtverteidiger zur Verfahrenssicherung beizuordnen.
• BGH, Urteil vom 19. Mai 1988 – 2 StR 22/88
Erklärt der Wahlverteidiger, das Vertrauensverhältnis zwischen ihm und seinem Mandanten sei zerstört, ohne diese Erklärung mit bestimmten Tatsachen zu belegen, so begründet dies allein noch keine Verpflichtung des Vorsitzenden, von der Bestellung zum Pflichtverteidiger abzusehen oder - wo sie bereits geschehen ist - den Pflichtverteidiger wieder abzuberufen.
11.) Entpflichtung oder Auswechslung des beigeordneten Verteidigers
Die Entpflichtung eines Pflichtverteidigers kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn Umstände vorliegen, die den Zweck der Pflichtverteidigung, dem Angeklagten einen geeigneten Beistand zu sichern und den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu gewährleisten, ernsthaft gefährden. Eine Entpflichtung auf den bloßen Wunsch des Angeklagten hin scheidet in aller Regel aus. Anders kann es sein, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant aus nachvollziehbaren Gründen gestört ist. Das muss der Angeklagte substantiiert darlegen können.
Der gerichtlich bestellte Verteidiger kann aber ausgewechselt werden, wenn der Angeklagte und beide beteiligten Verteidiger damit einverstanden sind, hierdurch keine Verfahrensverzögerung erfolgt und der Staatskasse keine Mehrkosten entstehen.
• LG Berlin, Beschluss vom 26. Juli 2011 – 539 Qs 39/11
Eine Beiordnung des bisherigen Wahlverteidigers als Pflichtverteidiger soll in der Regel nicht stattfinden, wenn der bisherige Wahlverteidiger zuvor einen Kollegen aus seiner Stellung als Pflichtverteidigers verdrängt hat. Anders liegt der Fall dann, wenn ein wichtiger Grund zur Auswechselung des Pflichtverteidigers vorliegt. Ein wichtiger Grund liegt dann vor, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine im Mandatsverlauf eingetretene tiefgreifende Erschütterung des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Angeklagten und seinem Pflichtverteidiger bestehen. Dies ist anzunehmen, wenn der frühere Pflichtverteidiger den in anderer Sache untergebrachten Beschuldigten während eines Zeitraums von drei Monaten nicht einmal besucht oder die Sache mit ihm erörtert hat.
• LG Heilbronn, Beschluss vom 25. Januar 2011 – 3 KLs 12 Js 32930/10
Im Fall einer aus der Not geborenen Eilentscheidung bei der Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Inhaftierung des Beschuldigten ist es geboten, dessen Wunsch auf Wechsel des Verteidigers nach Anklageerhebung auch ohne Vorliegen von Widerrufsgründen zu entsprechen, auch wenn dadurch (geringfügige) Mehrkosten entstehen.
• KG Berlin, Beschluss vom 14. Mai 2009 – 4 Ws 45/09, 1 AR 661/08 - 4 Ws 45/09
Das gegen einen Rechtsanwalt verhängte Berufsverbot – Widerruf der Zulassung mit sofortiger Wirkung nach §§ 16 Abs. 7, 155 Abs. 2 BRAO – ist ein wichtiger Grund für die Rücknahme der Bestellung als Pflichtverteidiger nach § 143 StPO.
• OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11. November 2010 – III-1 Ws 290/10, 1 Ws 290/10
Die fehlende Kontaktaufnahme eines Pflichtverteidigers mit einem bereits über zwei Monate in Untersuchungshaft befindlichen Beschuldigten kann den Widerruf der Verteidigerbestellung aus wichtigem Grund rechtfertigen.
• OLG Köln, Beschluss vom 24. März 2010 – 2 Ws 181 - 182/10, 2 Ws 181/10, 2 Ws 182/10
Die Zurücknahme einer Pflichtverteidigerbestellung ist bei einer wesentlichen Veränderung der Umstände möglich.
• OLG Stuttgart, Beschluss vom 17. Mai 2011 – 2 Ws 97/11, 2 Ws 98/11
Ein wichtiger Grund für die Aufhebung der Bestellung eines Pflichtverteidigers ist in aller Regel darin zu sehen, dass der Verteidiger nicht zuzusichern vermag, an der ganz überwiegenden Mehrzahl der vorgesehenen Hauptverhandlungstermine teilzunehmen. Die Bestellung eines Verteidigers ist nicht schon deshalb unzulässig, weil der Verteidiger eines Mitbeschuldigten Mitglied derselben Sozietät ist, es sei denn, es gibt konkreten Anlass zu der Sorge, der neue Verteidiger würde die Verteidigung nicht mit vollem Einsatz führen. Die bloße abstrakte Möglichkeit eines Interessenkonflikts genügt nicht.
12.) Rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers
Eine rückwirkende nachträgliche Beiordnung kommt zumeist nicht in Betracht, weil die Bestellung eines Pflichtverteidigers in erster Linie der Sicherung einer ordnungsgemäßen Verteidigung des Angeklagten dient, die nachträglich für einen abgeschlossenen Verfahrensabschnitt nicht mehr herbeigeführt werden kann. Eine nachträgliche Beiordnung kann allenfalls ausnahmsweise, wenn aufgrund von Fehlern des Gerichtes die Beiordnung unterblieben ist, in Betracht kommen.
• OLG Celle, Beschluss vom 24. Juli 2012 – 2 Ws 196/12
Die Pflichtverteidigerbeiordnung im Vorverfahren setzt einen Antrag der Staatsanwaltschaft voraus. Eine nachträgliche rückwirkende Verteidigerbestellung für das im Rechtszug abgeschlossene Verfahren ist unzulässig.
• LG Itzehoe, Beschluss vom 07. Juni 2010 – 1 Qs 95/10
Unter besonderen Umständen ist eine Ausnahme von dem Grundsatz der Unzulässigkeit der nachträglichen Beiordnung eines Verteidigers nach dem endgültigen Abschluss eines Verfahrens zu machen. Voraussetzung hierfür ist, dass der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 Abs, 1, 2 StPO vorlagen und das Begehren auf Beiordnung als Pflichtverteidiger in verfahrensfehlerhafter Weise behandelt wurde.
• LG Frankfurt, Beschluss vom 30. Juni 2009 – 5-6 Qs 28/08, 5/6 Qs 28/08, 5-06 Qs 28/08, 5/06 Qs 28/08
Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbeiordnung ist dann zulässig, wenn der Antrag auf Beiordnung vor Verfahrensbeendigung gestellt wurde, die Voraussetzungen der Beiordnung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen, und die rechtzeitige Entscheidung über die Beiordnung durch gerichtsinterne Vorgänge, auf die ein Dritter keinen Einfluss hat, unterblieben ist, bevor die Verfahrensbeendigung (hier: durch Einstellung) absehbar war.
• LG Stuttgart, Beschluss vom 18. Juli 2008 – 7 Qs 64/08
Die rückwirkende Bestellung zum Pflichtverteidiger ist, jedenfalls im Falle der Einstellung des Verfahrens gem. § 154 StPO, ausnahmsweise zulässig, sofern ein ordnungsgemäßer Antrag vor Verfahrensbeendigung gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Beiordnung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen, der Verteidiger tatsächlich tätig wurde und dennoch eine Entscheidung über den Antrag unterblieb.
13.) Reichweite der Beiordnung
Erfolgt die Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wirkt diese für das gesamte Verfahren, also auch für die Berufungsinstanz und die Einlegung der Revision (allerdings nicht für eine etwaige Revisionshauptverhandlung). Auch für das Nachverfahren, das die Bildung einer Gesamtstrafe betrifft, wirkt die Beiordnung weiter. Ob die Beiordnung auch für das Wiederaufnahmeverfahren fortwirkt, ist umstritten.
• Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 23. Oktober 2013 – 1 Ws 283/13
Die Pflichtverteidigerbestellung im Ausgangsverfahren endet mit dem rechtskräftigen Abschluss dieses Verfahrens und wirkt nicht im Wiederaufnahmeverfahren fort
• OLG Oldenburg (Oldenburg), Beschluss vom 15. April 2009 – 1 Ws 205/09
Die Pflichtverteidigerbestellung im Ausgangsverfahren erstreckt sich - entgegen der herrschenden Meinung - nicht auf das Verfahren über einen Wiederaufnahmeantrag.
• KG Berlin, Beschluss vom 23. Mai 2012 – 4 Ws 46/12, 4 Ws 46/12 - 141 AR 245/12
Die im Ursprungsverfahren erfolgte Bestellung eines Pflichtverteidigers wirkt bis zu einem rechtskräftigen Abschluss des Wiederaufnahmeverfahrens fort.
• Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 14. April 2008 – 1 Ws 51/08
Die Bestellung eines Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger im Strafverfahren umfasst nicht die Befugnis zur Vertretung des Angeklagten im Adhäsionsverfahren und löst damit insoweit keinen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse aus. Es bedarf vielmehr einer zusätzlichen Beiordnung nach dem Maßstab des § 114 ZPO.
14.) Beiordnung im Ermittlungsverfahren
Auf Antrag der Staatsanwaltschaft ist dem Beschuldigten, auch wenn er nicht in Haft ist, ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn andere Gründe des § 140 StPO vorliegen. Ob dem Beschuldigten selbst diesbezüglich ein Antragsrecht zusteht, ist umstritten.
• BGH, Urteil vom 25. Juli 2000 – 1 StR 169/00 –, BGHSt 46, 93-106
Ist abzusehen, dass die Mitwirkung eines Verteidigers im gerichtlichen Verfahren notwendig sein wird, so ist § 141 Abs 3 StPO im Lichte des von Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK garantierten Fragerechts dahin auszulegen, daß dem unverteidigten Beschuldigten vor der zum Zwecke der Beweissicherung durchgeführten ermittlungsrichterlichen Vernehmung des zentralen Belastungszeugen ein Verteidiger zu bestellen ist, wenn der Beschuldigte von der Anwesenheit bei dieser Vernehmung ausgeschlossen ist.
• LG Erfurt, Beschluss vom 23.04.2012 – 7 Qs 101/12
Eines — grundsätzlich erforderlichen — Antrages der Staatsanwaltschaft nach § 141 Abs. 3 S. 2 StPO bedurfte es hier ausnahmsweise nicht, da das der Staatsanwaltschaft eingeräumte Ermessen „auf Null reduziert” war. Der „Herrin des Ermittlungsverfahrens” ist hier zwar ein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum eingeräumt. Jede andere Entscheidung als die Bestellung eines Pflichtverteidigers (bzw. eines Antrages hierzu) wäre jedoch ermessensfehlerhaft (vgl. LG Cottbus, Beschluss vom 13.05.2005, Az.: 22 Qs 15/05). Es wäre im Übrigen eine bloße „Förmelei”, zunächst der Staatsanwaltschaft aufzugeben, einen Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zu stellen, um dann jenem Antrag Folge zu leisten. Angesichts der Ermessensreduzierung auf Null sah sich die Kammer in der Lage, im Zuge des Beschwerdeverfahrens ausnahmsweise selbst die Bestellung vorzunehmen.
15.) Konkludente Beiordnung eines Pflichtverteidigers
Auch die Beiordnung durch schlüssiges Handeln des Gerichtes, insbesondere durch die Duldung der Verteidigertätigkeit in Fällen evident notwendiger Verteidigung, ist möglich.
• Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 13. Januar 2010 – 1 Ws 546/09
Der Senat hält in Übereinstimmung mit der herrschenden Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum eine konkludente Beiordnung eines Pflichtverteidigers (gerade auch) im Strafvollstreckungsverfahren für möglich. Einer Beiordnung durch schlüssiges Verhalten des Gerichts stehen mangels besonderer Formvorschriften für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers keine rechtlichen Hindernisse entgegen. Zudem besteht für die Anerkennung dieser Möglichkeit ein erhebliches praktisches Bedürfnis. Eine stillschweigende Beiordnung darf nicht unterstellt werden. Von ihr kann nur dann ausgegangen werden, wenn sich zureichende Anhaltspunkte dafür finden, dass das Gericht den Verteidiger tatsächlich beiordnen wollte. Dabei ist das Verhalten des Gerichts so auszulegen, wie es aus der Sicht eines verständigen und redlichen Beteiligten aufzufassen ist. Für einen dahingehenden Willen des Gerichts können etwa folgende Umstände sprechen: Der die Beiordnung beantragende Verteidiger hatte bisher kein oder zumindest kein durch eine schriftliche Vollmacht belegtes Wahlmandat; gleichwohl beteiligt ihn das Gericht aktiv am Verfahren. Der Verteidiger wiederholt seinen Beiordnungsantrag zeitnah zur Anhörung oder in der Anhörung, ohne dass das Gericht eine insoweit ablehnende Haltung einnimmt. Der Verteidiger beantragt seine Beiordnung rechtzeitig und die Notwendigkeit der Beiordnung drängt sich einem verständigen Richter geradezu auf. Es ist ein Gebot des fairen Verfahrens sowie der richterlichen Fürsorge für den Betroffenen und entspricht dem Willen des Gesetzgebers, über die Bestellung eines Pflichtverteidigers möglichst früh zu entscheiden. Ein Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger im Strafvollstreckungsverfahren ist deshalb zeitnah zu verbescheiden. Ein monatelanges Untätigbleiben ist - zumal bei ernsthaft in Betracht kommender Notwendigkeit einer Beiordnung - prozessrechtswidrig.
• BGH, Beschluss vom 20. Juli 2009 – 1 StR 344/08
Eine stillschweigende Bestellung zum Verteidiger in der Revisionshauptverhandlung kann vorliegen, wenn der Verteidiger, obwohl nicht als gewählter Verteidiger ausgewiesen, nicht nur eine Terminsnachricht zugestellt bekommt, sondern in der Revisionshauptverhandlung auch als Verteidiger des Angeklagten auftritt.